Dienstag, 19. Juni 2012

Dankbarer Rückblick – oder – Abschied und Aufbruch

Danken heißt sich vor Gott hinsetzen und sich freuen
(Afrikanisches Sprichwort)
Zwei Jahre Mitarbeit im Jesuitenflüchtlingsdienst (JRS – Jesuit Refugee Service) waren für mich vorgesehen. Eine insgesamt überschaubare Zeitspanne, vor allem verglichen mit der Dauer des Aufenthalts von Flüchtlingen in Kakuma. Für sie sind 10, 15 oder gar 20 Jahre in Kakuma eher die Regel, als die Ausnahme. Meine Zeit ist nun vorüber und mit Dankbarkeit darf ich zurückblicken.
Abschied von den Flüchtlingen, die mit mir im Education Center arbeiteten

Es ist:
  • Dankbarkeit gegenüber den Verantwortlichen des Ordens in Deutschland, die mir diese Chance eröffnet haben und die Arbeit des JRS durch meine Sendung unterstützen wollten.
  • Dankbarkeit gegenüber vielen Menschen in der Heimat, die sich für das Schicksal von Menschen auf der Flucht interessierten und die oftmals mit großzügigen Spenden die Arbeit des JRS unterstützten (darf übrigens gerne weiter getan werden :)).
  • Dankbarkeit gegenüber Kollegen und Mitbrüdern in Kakuma, mit denen ich Schönes und Beschwerliches teilen konnte und die mich in schweren Zeiten aufbauten.
  • Und natürlich Dankbarkeit gegenüber vielen Flüchtlingen, denen ich begegnen durfte. Ich flog nach Afrika mit dem Wunsch mit den Flüchtlingen Glaube, Hoffnung und Liebe teilen zu können. Die Welt lässt sich nicht verändern, aber kleine Schritte können gegangen werden. Flüchtlinge fühlen sich oftmals von der Welt vergessen und verlassen. Durch meine Gegenwart wollte ich den Menschen vor Ort zeigen, dass sie nicht vollkommen vergessen sind – sich auch Freunde und Bekannte in Deutschland für Ihr Schicksal interessieren, und dass sie trotz der widrigen Umstände eine Würde besitzen und Gott anwesend ist. Viele meiner Erwartungen wurden erfüllt – doch ich wurde noch sehr viel mehr von den Flüchtlingen beschenkt. Daher gilt ihnen mein größter Dank. Vieles durfte ich von ihnen lernen und staunen – von ihrem großen Optimismus trotz der vielen Probleme, ihrer großen Geduld und ihrer Offenheit gegenüber mir. Und immer wieder war ich fasziniert von ihrem Glauben an Gott – trotz der teilweise traumatischen Erfahrungen und dem Verlust von Verwandten, Freunden und den persönlichen Habseligkeiten, spürte ich immer wieder bei ihnen, dass für sie Gott nichts Abstraktes, sondern konkret und anwesend ist.
Zum Abschied erhielt ich von der kongolesischen Jugend u.a. ein Huhn geschenkt! Ein kostbares Geschenk in Kakuma.
Es darf leider nicht den Flug antreten, schmeckt aber sicherlich gut :)
In meinen Jahresexerzitien betete ich vergangene Woche mit den Seligpreisungen der Bergpredigt (Matthäus_5). Dort heißt es: 

Selig, die arm sind vor Gott;/
    denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden;/
    denn sie werden getröstet werden.
Selig, die keine Gewalt anwenden;/
    denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit;/
    denn sie werden satt werden.
Selig die Barmherzigen;/
    denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die ein reines Herz haben;/
    denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften;/
    denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;/
denn ihnen gehört das Himmelreich.

Diese Zeilen wirken für mich, wie für Flüchtlinge geschrieben. Flüchtlinge haben alles verloren, sie sind vollkommen auf Gott angewiesen. Sie trauern um Angehörige und Freunde, um ihre Heimat. Vor Gewalt sind sie geflohen und wollen, dass Gerechtigkeit eintritt. Sie sehnen sich nach Frieden und viele traten für Gerechtigkeit ein und mussten daher die Verfolgung in Kauf nehmen. Hatte Jesus bei der Bergpredigt auch besonders Flüchtlinge im Sinn?

Viele Momente meiner Zeit in Kakuma werde ich sicherlich immer in kostbarer Erinnerung behalten. Aber alles hat seine Zeit, so auch für mich weiter zu ziehen. Und so verlasse ich nun Kakuma und werde ab September in Paris Theologie studieren.
Abschied von versch. Ordensleuten (Jesuiten, Salesianern, kleinen Schwestern Charles de Foucaulds und  einer Schwester vom Heiligen Herzen Jesu)

Dienstag, 29. Mai 2012

Die Hoffnung stirbt zuletzt
- oder -
Manchmal ist die Welt kompliziert!

"They have taken my home,
but they can't take my future!"

(Spruch auf dem T-Shirt eines Flüchtlings)

Vor einigen Wochen saß ich morgens im Gottesdienst und las auf dem T-Shirt eines Flüchtlings den Spruch: "They have taken my home, but they can't take my future". Diese Aussage bringt sehr schön meine persönlichen Eindrücke ins Wort. Vor etwa zwei Jahren, als ich mich auf die Arbeit in einem Flüchtlingslager  einstellte, ging mir vieles durch den Kopf. Ich stellte mir Situationen vor, mit denen ich konfrontiert werden könnte und ich stellte mir oft  Fragen wie z.B.: Wie werden Flüchtlinge ihre Situation beurteilen?  Wie gehen Menschen mit dem Verlust von Verwandten und Freunden und ihren Habseligkeiten um? Prägen Traumatisierung und Verzweiflung den Geist eines Flüchtlingslagers?
Traumatisierung, Verzweiflung und Not sind in Kakuma vorhanden. Vom Verlust von Verwandten und der eigenen Habseligkeiten sind viele betroffen und es sind schwere Schicksalsschläge vorhanden.  Die Infrastruktur im Camp ist mangelhaft (Wasserrationierung auf 20 Liter pro Person und Tag, unzureichende Schulkapazitäten, rudimentäre Gesundheitsversorgung, etc.) und die Ungewissheit über die Zukunft prägt viele. Die Heimat ist genommen und die Konsequenzen sind spürbar. Doch dies überschattet nicht alles: Bei unheimlich vielen spüre ich Lebensmut und Hoffnung - jede Gelegenheit um weiter zu kommen wird beim Schopfe gepackt. Die Zukunft wollen sich die Flüchtlinge nicht nehmen lassen. Die Stimmung ist von Hoffnung geprägt - von der Hoffnung zu lernen und als anderer Mensch das Camp zu verlassen; vom Wunsch etwas zu erreichen, von der Sehnsucht in die Heimat zurückkehren zu können oder von einem westlichen Land aufgenommen zu werden. Diese Stimmung durfte ich häufig wahrnehmen: Sei es in Gesprächen mit Jugendlichen und Erwachsenen in den Kirchen, mit Flüchtlingen, die für den JRS arbeiten, bei Studenten des Fernstudienprogramms oder bei meinen Studenten in "Business Management & Entrepreneurship". Die Heimat ist genommen, doch die Zukunft will man sich nicht nehmen lassen. Diese Einstellung fasziniert mich immer wieder.

Die Überreichung eines Geschenkes der Studenten
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft war bei meinen Studenten im Business Management Kurs der Hauptantrieb. Es wurden viele verschiedene Dinge gelernt - und ich bin schon zufrieden, wenn ich ein wenig von meinen drei Anliegen vermitteln konnte. Diese waren:
  1. Wenn ein Parameter verändert wird, kann dies große Konsequenzen haben. Viele ökonomische Situationen sollten dies verdeutlichen. Diese Sensibilisierung hilft hoffentlich auch im Alltag, denn schließlich ist das Leben von Veränderungen geprägt und es ist gut bereits im Vorfeld die Konsequenzen zu bedenken.
  2. Ich stellte fest, wie meine Studenten zu Beginn des Kurses vorschnell eine Situation als positiv oder negativ bewerteten, ohne jedoch Alternativen zu bedenken. Ein Projekt mag gut sein, allerdings kann es immer noch bessere geben. Oder ein Projekt mag schlecht sein, aber kurzfristig ist dieses Projekt u.U. trotzdem noch die beste Lösung. Hoffentlich werden allgemein Lebenssituationen zukünftig ein wenig mehr mit möglichen Alternativen verglichen. In vielen alltäglichen Dingen kann dies von Nutzen sein - und nicht jedes Angebot und jede Politik sind ohne Alternativen. 
  3. Zu Beginn hatten viele meiner Studenten Angst vor Unbekanntem, vor Graphen und ein wenig Mathematik. Aber mit der Zeit erfuhren sie, dass mit Lernen diese Dinge verstanden werden können. Im Verlauf des Kurses hatten Studenten bei neuen Dingen immer wieder Respekt, aber Ängste wurden immer geringer, da Fortschritte verzeichnet wurden und Selbstvertrauen wuchs.
Der Business Management Kurs ist mittlerweile zu Ende gegangen - und selbstverständlich musste dies mit einer Abschlussfeier gewürdigt werden. Als ich im Vorfeld einmal nebenbei erzählte, dass sowohl die meisten meiner Kollegen als auch ich nicht an der Abschlussfeier meines Diplomstudiums teilnahmen - und am Ende meines Philosphiestudiums überhaupt keine Abschlussfeier standfand, waren einzelne doch etwas verblüfft. Zu solch einer Abschlussfeier gehören hier in Kenia vor allem einige Reden - und so durften mein Mitbruder Luis Amaral SJ, ein Student und schließlich auch ich eine Rede halten. 

Die Abschlussfeier wurde in großer Dankbarkeit vollzogen und unerwarteterweise erhielt ich von den Studenten ein Geschenk. Auf dem Geschenk war auch ein kleiner Zettel angebracht mit dem Text: "We love you Christian!" Zunächst einmal war ich gerührt ob des Geschenkes - der Text rief in mir jedoch den Gedanken hervor: "Wollen meine lieben Studenten mich jetzt auf den Arm nehmen?" Immer wieder kritisierte ich sachlich und freundlich meine Studenten, weil sie zu wenig lernten, zu spät oder unregelmäßig kamen. Das gesellige Zusammensein im Anschluss an die Feier war dann so herzlich, dass der Text auf dem Geschenk wohl wirklich ernst gemeint war. Einige Tage später fragte ich einen Kenianer, wie er die Aussage verstehe und erklärte ihm den Hintergrund. Darauf erwiderte er: "Ein klares Auftreten des Lehrers wird von Studenten sehr geschätzt - und vielleicht haben sie auch geschätzt, wie sehr Du sie ernst nimmst. Und vielleicht hast Du ja auch gut unterrichtet."

Gruppenfoto der Studenten meines Kurses - einige Absolventen konnten leider nicht an der Abschlussfeier teilnehmen.

Am Ende der Feier fragte mich ein Student, wo meine Eltern und meine Familie leben. Nun die Antwort, dass meine Eltern und Geschwister in Deutschland leben, konnte er akzeptieren. Daraufhin fragte er, ob ich nicht verheiratet sei. Ich musste ihn dann daran erinnern, dass ich Jesuit bin und daher nicht verheiratet bin. Er entschuldigte sich und erklärte dies vergessen zu haben. Aber was ich denn dann mit dem vielen Geld mache, was ich hier verdiene, wenn ich keine Familie zu versorgen habe. Ich erwiderte lediglich, dass ich ja kein Geld verdiene.* Dies konnte er nicht fassen, er schaute mich mit großen Augen an und meinte: "Aber Du lehrst uns doch BWL und VWL, Du lehrst uns, wie man Geld verdient! Und Du verdienst nichts?" Ja, manchmal ist die Welt kompliziert.



*Ich persönlich erhalte kein Gehalt, jedoch bekommt meine Jesuitenkommunität in Nairobi ein kleines Gehalt für mich.

Montag, 7. Mai 2012

Mein neues Zuhause
- oder -
Wie ich Salesianer Don Boscos wurde!

"Gottes Wege sind unergründlich!" - oder getreu einem portugiesischen Sprichtwort, welches mein Novizenmeister verwendete: "Gott schreibt auf krummen Linien gerade." Sollte es vielleicht wirklich Gottes Wille gewesen sein, dass ich in Kakuma die Salesianer kennenlerne und Salesianer werde? Der eine oder andere fragt sich nun vielleicht, was mit mir los ist. Ist der Braunigger jetzt durchgeknallt  und mal ganz nebenbei Salesianer geworden, gerade als er vom Jesuitenprovinzial den offiziellen Brief erhalten hat, dass er von Herbst an Theologie studieren soll?

Don Bosco umgeben von Flaggen der Heimatländer versch.Flüchtlinge.
Ich kann alle beruhigen, es ist nichts Dramatisches passiert. Da beim Jesuitenflüchtlingsdienst eine Zimmerknappheit herrscht, habe ich Bereitschaft gezeigt ggf. für eine kurze Zeit  bei den Salesianern zu wohnen, da diese momentan genügend Platz haben und einen Jesuiten aufnehmen würden. Aufgrund eines Missverständnisses sind daraus dann allerdings gleich die gesamten letzten 8 Wochen meines Aufenthaltes in Kakuma geworden. Mein Wohnortwechsel irritiert einige Flüchtlinge und einige Kollegen beim JRS nennen mich nun Salesianer.
Am Sonntag beim Mittagessen mit Br. Benedikt (links) und P. Luke
Einerseits ist es Schade, dass ich nun vergleichsweise wenig Kontakt mit meinen Mitbrüdern und den anderen Kollegen habe, andererseits eröffnet mir das Leben bei den Salesianern eine neue Perspektive auf Kakuma und die Arbeit mit Flüchtlingen und außerdem lerne ich eine mir unbekannte Spiritualität kennen. Im Gegensatz zum JRS haben die Salesianer einen eigenen Wohnbereich, so dass es mehr einer Jesuitenkommunität entspricht - und folglich ist hier auch eine geistliche Atmosphäre vorhanden. Die Salesianer leben nicht im Gebiet der NGOs, sondern mitten im Flüchtlingslager - allerdings durchaus durch einen Zaun abgetrennt (wie Flüchtlinge untereinander sich auch durch Zäune abtrennen.) In diesen Wochen sind nur zwei Salesianer hier in Kakuma. Manchmal scheint mir, dass sie auch froh sind  einen weiteren Gefährten um sich herum zu haben. Die Salesianer Don Boscos sind in Kakuma mit ihrer traditionellen Tätigkeit engagiert: Berufsqualifizierende Ausbildung! So gibt es einjährige Kurse in verschiedenen Handwerken (Schneiderei, Schreinerei, Kfz-Mechaniker, Metallarbeit und Installateur, Elektriker, Maurer, Sekretär). Weiterhin werden 3-monatige Englisch- und Computerkurse angeboten. Auf diese Weise erreicht Don Bosco jährlich einige hundert Flüchtlinge - und Flüchtlinge können die Zeit im Exil sinnvoll zum Erlernen praktischer Tätigkeiten nutzen. Als ich in den letzten zwei Jahren gelegentlich kurz zu Besuch bei Don Bosco vorbeikam und über das Gelände lief, war ich immer wieder fasziniert, was mit sehr begrenzten Ressourcen erreicht werden kann. Vor einigen Wochen fertigte Don Bosco in seiner Ausbildungswerkstatt auch die Gestelle für die 20kV Solaranlage des JRS und setzte die Fundamente für die Gestelle.
Die Werkstätten Don Boscos bieten für Flüchtlinge einjährige Ausbildungen an, so Sekretärinnen, Metallarbeit, Kfz-Mechaniker, Schreinerei, Maurer, Schneiderei etc.
Da Don Bosco sowohl in einiger Entfernung zu meinem Hauptarbeitsplatz dem Education Center als auch auch dem allgemeinen Büro- und Wohnbereich aller NGOs liegt, habe ich nun ein Auto für mich alleine zur Verfügung, um mich frei bewegen zu können. Die Distanzen sind nicht groß - lediglich einige Kilometer, aber eben doch zu groß, um alles zu Fuss zurück zu legen.
Die Probleme, die dies mit sich bringt, habe ich dann schnell erfahren. Innerhalb der ersten Woche hatte ich insgesamt 3 platte Reifen. Auf dieses Abenteuer hatte ich nicht so richtig Lust, erfreulicherweise hatte ich in den drei darauffolgenden Wochen nur noch einen Platten. 
Die Rettung naht! Eine Kollegin kann nicht widerstehen und macht ein Foto.
Aus dem Schlamm herausgezogen! Die Freude steigert sich ins grenzenlose!
Ein weiteres Malheur ereignete sich vor kurzem, als es ausnahmsweise an einigen Tagen hintereinander geregnet hat. Ich bin munter losgefahren und schlitterte ein wenig durch den Schlamm - ein wenig wie bei Eis und Schnee, aber ich fühlte mich viel hilfloser. Plötzlich wollte mein Auto aber einfach nicht mehr weiterfahren. Ich sprach dem Auto lieb zu, aber es wollte nicht. Auch das Einschalten des Allrads änderte nichts daran. Vorwärts oder rückwärts fahren - nichts war möglich. Ich konnte Gas geben wie ich wollte - mein Auto ist im Schlamm stecken geblieben. Für die vorbeilaufenden Afrikaner ein Schauspiel. Einen Weißen zu sehen ist ohnehin nicht alltäglich, aber dann noch einen, der Auto fährt und im Schlamm festsitzt, dies ist eine Attraktion. Einige Vorbeikommende boten ihre Hilfe an - aber ich lehnte ab. Erstens hoffte ich, dass bald ein Auto des JRS kommen würde um mich herauszuziehen, zweitens wäre ich extrem dreckig geworden, wäre ich ausgestiegen und hätte versucht zu schieben, drittens konnte ich gar nicht aussteigen - denn die Fahrertür war an diesen Tagen nicht öffnenbar - ich hätte auf der Beifahrerseite aussteigen müssen und dafür meinen IT Assistenten in den Dreck schicken müssen, der auf dem Beifahrersitz saß. So warteten wir entzückt und glücklicherweise konnte nach einiger Zeit ein anderes Auto des JRS kommen und nahe genug heranfahren, um uns am Ende herauszuziehen (der Fahrer hatte zum Glück Gummistiefel, so dass ich sitzen bleiben konnte und er selbst auch nicht schmutzig wurde). Bis zu meiner Abreise soll es nun erst einmal mit dem Regen genügen, denn so viel Spaß macht es auch wieder nicht im Schlamm festzusitzen.

Mittwoch, 18. April 2012

Lebensgeschichten
- oder -
Die ständige Angst vor Kony und seiner LRA

Seit einigen Jahren ist die Lord Resistance Army (LRA) um Joseph Kony aus Uganda vertrieben und versetzt nun Teile des Kongo, der Republik Zentralafrika und des Südsudans in Angst und Schrecken. In Kakuma sind noch immer Flüchtlinge aus Uganda anzutreffen, die vor Kony und seiner LRA geflohen sind. Dies wirkt auf den ersten Blick verwunderlich, hat aber seine guten Gründe. Ein Beispiel hierfür ist Acan, die im Juli 2011 nach Kakuma kam.

Liliane (meine Übersetzerin, links) und Aca
Bis zum Jahr 2005 blieben Acan und ihr Dorf von Kony und seiner Armee verschont. Dann gingen eines Tages Gerüchte umher, dass Kony in der Gegend sei. Und dann geschah das Unfassbare. Die Rebellen griffen das Dorf an, plünderten Häuser, schlugen Menschen,... Acan stockt sie erzählt nicht weiter. Ihr fällt es sichtbar schwer ihre Erlebnisse zu schildern. Sie deutet kurz an, dass einigen Hände abgehackt wurden - und wieder stoppt sie. Viele Menschen mussten sich in Reihen aufstellen und wurden hingerichtet. Dabei wurde sie von einem Streifschuss am Becken getroffen, viel zu Boden und blieb liegen. Als die Rebellen abzogen, glaubten sie alle getötet zu haben. Ein Bruder Acas und ihre Mutter starben. Aca konnte aufstehen und mit Hilfe von anderen Dorfbewohnern, die in den Wald flüchten konnten, ging sie in die Stadt Kitgum. Nach nur einigen Tagen in Kitgum, kamen auch dort die Rebellen an und trieben ihr Unwesen. Sie selbst konnte sich in einem Haus verstecken. Details erzählt Acan nicht. Sie sagt: "Ich habe vieles erlebt. Ich könnte noch vieles erzählen" und ich merke wie schwer sie sich tut von der Vergangenheit zu erzählen. Ich will nicht bohren, sondern erkläre, dass sie bitte nur so viel erzählen soll, wie sie wünscht. Von Kitgum floh sie dann nach Gulu - doch auch da war sie nur einige Wochen in Sicherheit. Abermals überfiel die Lord Resistance Army auch diesen Ort. Wie durch ein Wunder kam sie mit ihrem Leben davon und floh in den äußersten Süden Ugandas.

Im Jahr 2011 fand sie heraus, dass einige entfernte Verwandte in Kakuma leben. Sie kommt hierher um mit einer Tante und Cousins zu leben. Acuna weiß nicht, was aus ihren Brüdern und Schwestern wurde.

Ich frage sie, ob sie sich vorstellen kann wieder zurück nach Uganda zu gehen. Sie verneint. Sie hat zu viel Angst - zu viel Angst auch davor, dass Kony wieder zurück kommen könnte. Solange Kony nicht verhaftet ist, wird sie jedenfalls nicht zurück gehen. Acan hat bisher nichts von der Initiative Kony 2012 gehört, welche durch Medienarbeit versucht zu sensibilisieren und Regierungen dazu zu bewegen Kony zu fassen. Als ich ihr davon erzähle, ist sie erfreut und hofft, dass er bald gefasst und vor Gericht gebracht wird.

Dienstag, 10. April 2012

Impressionen von den Kar-und Ostertagen in Kakuma
- oder -
Wie stark das Osterfeuer die Nacht erhellt!

Zu Beginn der Karwoche unterhalte ich mich mit einem Flüchtling, der einer der vielen kleinen Freikirchen angehört. Im Gespräch stellt sich heraus, dass der an den Kar-und Ostertagen studieren will. Ich bin überrascht, da er in seiner Kirche engagiert ist und normalerweise an allen Feierlichkeiten teilnimmt. Auf meine Frage, ob er nicht an den Gottesdiensten an Gründonnerstag, Karfreitag und in der Osternacht teilnimmt, antwortet er: "In meiner Kirche feiern wir nur den Ostersonntag. An den anderen Tagen haben wir keine Liturgie." Gibt es einen speziellen Grund für das Auslassen dieser Feiern? Darauf er: "Ich weiß auch nicht weshalb. Vielleicht weil wir nicht genügend Geld haben an jedem Tag im Anschluss an die Gottesdienste ein großes Fest zu feiern." In vielen Kulturen Afrikas ist jede außergewöhnliche Feier mit einem Fest verbunden. Werden die Kartage nicht begangen, da dies Tage der Trauer und des Mitvollzugs der Passion Jesu sind und ein großes Fest daher nicht gefeiert werden kann? Rätselnd bleibt mir der wahre Grund verborgen. Ich bin überrascht und stelle fest: Die Auferstehung Christi kann also auch gefeiert werden, ohne zuvor seines Todes zu gedenken.
Die Fusswaschung als Zeichen des Dienstes und der Liebe
wird auch in Kakuma durchgeführt.P. Luis Amaral wusch
an Gründonnerstag 12 jungen Männern die Füsse.

An Gründonnerstag und Karfreitag sind in den Kirchen wesentlich weniger Menschen, als üblicherweise an Sonntagen. In der Kirche, in welche ich an Gründonnerstag und Karfreitag gehe, ist die Kirche vielleicht zu 25% gefüllt; an einem normalen Sonntag ist die Kirche jedoch voll. Dieses Phänomen fiel mir bereits letztes Jahr auf - und bis heute habe ich keine Erklärung dafür. Vielleicht liegt es daran, dass in der Heimat der meisten Flüchtlinge nur selten ein Priester vorbei kommt, somit keine Kartage gefeiert werden und dann erst am Ostersonntag oder in der Osterzeit ein Priester in einem Ort vorbei kommen kann.

Die Gottesdienste werden trotzdem festlich gestaltet und es bleibt der Eindruck, dass die Teilnehmer innerlich die Passion Jesu mitgehen. Vermutlich sind jetzt vor allem diejenigen anwesend, die ihren Glauben aus einer tiefen inneren Überzeugung leben.

Die Osternacht hatte dann seinen ganz besonderen Reiz. Bei der Segnung des Osterfeuers spricht der Priester: 
"Allmächtiger, ewiger Gott, du hast durch Christus allen, die an dich glauben, das Licht deiner Herrlichkeit geschenkt. Segne dieses neue Feuer, das die Nacht erhellt, und entflamme in uns die Sehnsucht nach dir, dem unvergänglichen Licht, damit wir mit reinem Herzen zum ewigen Osterfest gelangen. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn."
Und siehe da - das Feuer erhellt so sehr die Nacht, dass es nahezu die Intensität der Sonne hat. Mir geht spontan durch den Kopf: "Der Herr meint es gut mit uns!" Diese Gedanken gehen mir kurz darauf
Die Segnung des Osterfeuers - irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen.
abermals durch den Kopf. Als wir in der Kirche einziehen, wird das Exsultet gesungen. Beim Exsultet handelt es sich um einen Lobgesang auf Gott und seine Taten am Volk Israel als es aus Ägypten auszog und wie die Auferstehung Christi den Tod besiegt. In diesem Gesang ertönen immer wieder die Worte: "Dies ist die Nacht" und o "wahrhaft selige Nacht". Die Nacht ist hier noch Tag, da die Osternachtsfeier aus Sicherheitsgründen so früh beginnt, so dass bei Dunkelheit die Flüchtlinge wieder in ihren Wohnbereichen sind.
Die Lesungen der Osternacht mit der Beschreibung des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten sind so passend für die anwesenden Flüchtlinge. Wenn ich beim Hören dieser Schriftstelle an Gespräche mit Flüchtlingen denke, geht es mir unter die Haut. Unterdrückung, Folter und Verfolgung haben nicht das letzte Wort. Der Herr hört das Flehen seines Volkes und flieht mit seinem Volk und wandert mit ihm - und die vollständige Erlösung aller Menschen wird schließlich besiegelt durch den Tod und die Auferstehung Christi. 

Die Osternacht und dann auch der Ostersonntag (die Kirchen sind nun so voll, dass viele stehen - und zwar auch außerhalb der Kirche) wird mit einer großen Freude gefeiert. Liegt es daran, dass viele die Errettung aus der Not erlebt haben und bereits jetzt immer wieder eine Befreiung spüren? Wenigstens  einige Flüchtlinge haben gegenüber mir so den Zusammenhang zwischen ihrem Leben und der Feier des Osterfestes so beschrieben; sie haben bereits eine Errettung erfahren, fühlen sich gestärkt und erwarten die vollständige Erlösung. Und selbstverständlich freuen sich alle über ein Fest, welches den kargen Alltag durchbricht. Hier ein kleines Video von Ostersonntag:

An Karfreitagabend und am Samstag nach der Osternachtsfeier scheint der Muezzin lauter als üblicherweise zum Gebet zu rufen. Will er nur kurz in Erinnerung rufen, dass es in Kakuma auch noch Muslime gibt und die auch die Mehrheit unter den Flüchtlingen sind?

Am Ostersonntag sind alle Christen auf den Beinen - und viele freikirchliche Gruppierungen nutzen die Chance um Paraden abzuhalten - es ist eine Zeit des Feierns, aber auch des sich Präsentierens. Das Video gibt einen kleinen Einblick. Bei der Gruppe, die ich filmte, schien mir, dass sie vor allem im Kreis marschierten.

Allen eine gesegnete Osterzeit!

Montag, 26. März 2012

Lebensgeschichten
oder
Ayana, eine Frau gibt nicht auf!

Ayana ist 22 Jahre alt und seit 2009 in Kakuma. Geboren und aufgewachsen ist Ayana in Mogadischu. Ihre Eltern hatten 5 Töchter, von denen Ayana die älteste ist. In Mogadischu hat Ayana die Möglichkeit die Schule zu besuchen. Wer in Somalia studieren will, wird aufgrund der Schulnoten eingestuft und es wird einem ein Studienfach zugewiesen, so werden z.B. die besten Schüler u.a. zum Medizinstudium eingeteilt. Ayanas Schulabschluss ist sehr gut und sie wird dem Studienfach Rechtswissenschaften zugewiesen, wobei sie eigentlich unbedingt Wirtschaftswissenschaften studieren will. Im Jahr 2007 wird ihr Vater in Mogadischu ermordet. Er war ein Beamter der Regierung und wurde wahrscheinlich von Rebellen oder Oppositionellen ermordet, aber so genau weiß dies niemand, schließlich gibt es sehr viele bewaffnete Konflikte. Der Verlust des Vaters ist ein harter Schlag für die Familie.
Von den ca. 85.000 Flüchtlingen in Kakuma,
stellen Somalis mit 45.000 die größte Gruppe
dar. Sie kamen vorwiegend zw. 2005 und 2009
nach Kakuma.
Um ein Einkommen zu haben, eröffnet die Mutter daraufhin ein Geschäft. Im Jahr 2008 geschieht dann etwas für Ayana Unglaubliches. Sie sitzt abends vor dem Fernseher – mit ihr im Raum sind noch ihre Mutter und eine Bekannte der Mutter. Der Nachbar klopft an, tritt in das Zimmer ein, zieht eine Pistole und geht zunächst auf die Mutter zu, erschießt zunächst sie und daraufhin die Bekannte. Dann geht der Nachbar wieder. Ayana ist sich sicher, dass der Nachbar sie aufgrund der Raumaufteilung und des Sofas nicht sah. Ansonsten hätte er sie ebenfalls erschossen. Die Bilder der erschossenen Mutter gehen ihr nicht aus dem Kopf. Und als sie den Tod der Mutter schildert, fragt sie immer wieder wieso...
Der Nachbar wurde von Ayanas Vater stets unterstützt. Er durfte im angrenzenden Haus wohnen, ihm wurde finanziell unter die Arme gegriffen... Die Beziehung zum Nachbarn war bis zu diesem Zetpunkt stets gut. Ayana flieht mit zwei Schwestern (eine ist erst zwei Jahre alt) durch den Hinterausgang und findet Zuflucht bei ihrer Tante, dorthin kommt dann auch noch die andere Schwester. Die kleine Schwester stirbt bald darauf, weshalb ist nicht klar. Der Mann der Tante möchte Ayana nach einiger Zeit verheiraten – es ist so üblich und bringt Geld ein. Ayana soll Kinder bekommen und im Haushalt arbeiten. Der Wunsch Ayanas weiter studieren zu dürfen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, soll nicht berücksichtigt werden. In dieser Zeit erfährt Ayana irgendwann, dass der Nachbar den Teil des Hauses von Ayanas Familie eingenommen hat und „besitzt“ nun das ganze Haus, in welchem er zuvor nur wohnen durfte.
Ayana will nicht in Somalia bleiben. Irgendeinen Mann heiraten, zu Hause sitzen, kochen, waschen und nicht studieren dürfen... Das schreckt sie ab. Und dann kommt noch die Unsicherheit hinzu – die vielen Konflikte und immer wieder werden Menschen ermordet. Ayana beschließt mit ihren Schwestern zu fliehen. Zu Fuss gehen sie von Mogadischu nach Kenia. Auf dem Weg stirbt eine der beiden Schwestern, welche sie zurücklassen müssen. An der kenianisch-somalischen Grenze wartet ein Freund des Vaters und hilft ihnen. Mit diesem Freund kommt sie 2009 nach Kakuma, die damals 17-jährige Schwester lebt in Nairobi und geht bis heute zur Schule.

Flüchtlinge müssen Brennholz zum Kochen bei der einheimischen
Volksgruppe, den Turkanas kaufen. Im Bild zu sehen sind drei Turkana
Frauen (mit Perlen um den Hals), welche Brennholz verkaufen sowie
5 somalische Kundinnen. 

Doch auch hier in Kakuma ist das Leben hart. Ayana lebt bei der Familie des Familienfreundes. Für die achtköpfige Familie (6 Kinder, Mann, Frau) muss Ayuna putzen, kochen, Wäsche waschen und mit den Kindern lernen. Das älteste Kind ist 18. Ob ihr jemand hilft? Nein, bis sie kam hatte die Familie eine Turkana (eine Frau der einheimischen Volksgruppe) angestellt. Die Kinder der Familie wissen nicht, wie man verschiedene Dinge macht und sie wollen es auch nicht wissen. Die Frau hat ein Geschäft und will sich nicht mit Hausarbeiten abgeben. Und ein Mann ist hier grundsätzlich von Hausarbeiten befreit. Als Ayana davon erzählt, weint sie abermals. Sie wird ausgenommen, vielleicht sogar misshandelt. Von der Familie wegzugehen und alleine zu leben ist unmöglich, zu gefährlich. Und nun wird sie abermals von verschiedenen Seiten aufgefordert zu heiraten, schließlich sei sie ja schon 22 Jahre alt und immer noch nicht verheiratet.

Ich frage Ayana, ob sie nicht zur Organisation gehen will, die solche Fälle registriert und sie in einen Sicherheitsbereich bringen könnte. Aber dies will sie nicht. Ayana hat eine Tätigkeit beim UNHCR als Übersetzerin, und diese Tätigkeit könnte sie dann nicht mehr ausüben. Sie verdient vielleicht 60 oder 70 Euro im Monat, mit denen sie ihre Schwester in Nairobi unterstützen kann. Am liebsten würde Ayana weggehen, aber ihre Schwester ist ja noch da, für die sie sich verantwortlich fühlt und die sie unterstützen will. Ayana will nicht aufgeben.
Ayana ist eine meiner Studentinnen im Business Management Kurs (siehe: Business Management & Entrepreneurship - Zwei Kulturen treffen aufeinander und Die Leiden des Lehrers). Auch Ayana kommt immer wieder in den Unterricht ohne Übungen oder Wiederholung gemacht zu haben. Sie kommt zu spät und schaut mich häufig mit großen, fragenden Augen an, die mir sagen, dass sie wenig verstanden hat. Aber ist dies bei ihrer Lebensgeschichte und ihren Lebensumständen nicht logisch? Wenn ich mir ihre Lebensgeschichte und Lebensumstände vor Augen halte, habe ich bereits großen Respekt, dass Ayana überhaupt am Kurs teilnimmt - und meine "westlichen" Vorstellungen des Studiums sind nun hoffentlich relativiert. Wer weiß womit die anderen zu kämpfen haben, die scheinbar (!) nicht so fleißig sind.

Dienstag, 13. März 2012

Business Mangement & Entrepreneurship (2)
oder
Die Leiden des Lehrers

Wie in meinem letzten Post berichtet (siehe: Business Management & Entrepreneurship oder Zwei Kulturen treffen aufeinander), unterrichte ich Flüchtlinge in Business Management und versuche ein Gespür für wirtschaftliches Handeln zu vermitteln. Sollten sich meine Reden gegenüber Studenten zu Verantwortung und Freiheit oder zum Stellenwert von Fachwissen rächen? Waren meine Erwartungen an die Studenten zu Hause zwei oder drei Stunden pro Woche mit Übungen zu verbringen unrealistisch?

Im Laufe des Kurses haben es meine Studenten regelmäßig geschafft mich zur Verzweiflung zu bringen – und manchmal beginne selbst ich an mir zu zweifeln. Pünktlichkeit gehört mit Sicherheit nicht zu den afrikanischen Tugenden. Das afrikanische Sprichwort „Ihr in Europa habt die Uhren, wir haben die Zeit“ trifft es durchaus auf den Punkt. Bereits in den ersten Wochen war es durchaus üblich, dass bei Unterrichtsbeginn um 9:30 Uhr nur einige Leute anwesend waren. Ich begann dann vielleicht mit 5 Minuten Verspätung zu unterrichten und nacheinander kamen sie dann in die Vorlesung. Nach 45 oder 55 Minuten kamen dann auch die letzten.
Manchmal sitze ich verzweifelt mit offenem
Mund und Händen vor dem Kopf am
Schreibtisch und frage mich, wie ich mit
meinen Studenten umgehen soll.
Prinzipiell sollte mir dies gleichgültig sein, wenn, ja wenn nicht die zu spät Kommenden dann Fragen stellen und meinen sie würden den Inhalt nicht verstehen. Es ist kein Wunder, dass die Inhalte nur noch schwer verstanden werden. Wenn jemand 50 Minuten zu spät kommt und die Inhalte aufeinander aufbauen, dann wird er viele Dinge nur noch schwer verstehen. Immer wieder verwies ich auf die Punkte Freiheit und Verantwortung – und ich könne nicht alles mehrmals erklären, schließlich sollen sich diejenigen, die pünktlich gekommen sind, nicht langweilen und damit für ihre Pünktlichkeit bestraft werden. Andererseits entwickelte ich mit der Zeit auch ein wenig das Gefühl, dass in den kommenden Wochen einige den Kurs verlassen könnten, da sie nichts mehr verstehen – und vor nur einigen, wenigen Menschen zu unterrichten bereitet keine Freude. (Geschweige denn, dass ich gerne einer großen Zahl an Menschen etwas mitgeben möchte). Sollte ich den Unterricht mit einer größeren Verspätung beginnen? Dann werden diejenigen bestraft, die einigermaßen pünktlich sind.

Die Problematik erkannte ein Student schließlich auch selbst. In den Weihnachtsferien bestand zur Vorbereitung auf einen Test das Angebot fuer eine "Fragestunde" von 9 Uhr bis 12 Uhr, um Ungereimtheiten zu besprechen. Einige wenige kamen – was für mich kein Problem war. Gegen 11:35 Uhr kam dann einer hinzu – ein wenig spät. Mit den bereits Anwesenden war ich gerade im Besprechen einer Übungsaufgabe, so dass ich dann um 11:45 Uhr zum Neuankömmling meinte: „Nun hast Du noch 15 Minuten Zeit Fragen zu stellen.“ Er schaute mich an – und ich ergänzte lediglich: „Die Vereinbarung war, dass ich von 9 Uhr bis 12 Uhr zur Verfügung stehe. Du kommst eben doch ein wenig spät. Und nebenbei in die Vorlesungen bist Du auch immer 45 bis 60 Minuten zu spät gekommen – falls überhaupt.“ Worauf er nur erwiderte: „Ja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Nebenbei erwähnt: Er war auch nicht im geringsten auf die Fragestunde vorbereitet – er hätte keine Frage stellen können. Im Test in der darauffolgenden Woche hatte er 0 von 36 Verrechnungspunkten – die drei besten Studenten hatten hingegen 33 von 36 Punkten.

Und wie sieht es mit dem Bearbeiten von Übungsblättern zu Hause aus? Ziemlich schlecht. Anfangs gab ich Aufgaben aus, die zu bearbeiten sind – ohne jedoch Übungen zu kontrollieren. Sehr schnell bemerkte ich, dass nur wenige sich zu Hause Gedanken gemacht hatten. Auch die Kopien aus einem Buch, in welchen der Stoff nochmals erklärt wurde, wurde nicht wirklich gelesen. Zunächst störte mich dies nicht – als Student war ich während der Vorlesungszeit ebenfalls nicht der Fleißigste, aber ich lernte vor den Prüfungen ohne Ende. Als jedoch der erste Test kam und eine Reihe auch dafür nicht wirklich gelernt hatten, brachte mich dies zur Verzweiflung. Lag es an meinem Unterrichtsstil? Lag es an zu vielen eingestandenen Freiheiten und einer damit verbundenen Überforderung der Studenten? Hätte ich mehr die Übungsaufgaben kontrollieren sollen? Eine Studentin, die in der Vorlesung wirklich nicht viel verstand (mit Mathematik und Logik steht sie klar auf Kriegsfuss), begann vor der Prüfung zu lernen – und sie bestand den Test mit einer guten Note. Machbar war der Test also durchaus und sie hat im Nachhinein ziemlich viel verstanden. Woran lag es also? Zwei afrikanische Mitbrüder meinten zu mir: „Erstens sich Gedanken zu machen und nicht einfach nur zu reproduzieren, ist für Studenten hier Neuland. Zweitens wollen hier in Afrika Studenten nur gute Noten haben, aber sie wollen nicht lernen.“ Dies ist sicherlich sehr verallgemeinert – aber es trifft bis zu einem gewissen Grad durchaus zu. Für die Aussagen meiner Mitbrüder fand ich letzte Woche leider eine Bestätigung. Ich war im Februar für eine Woche in Nairobi und diese Zeit sollten meine Studenten für die Vorbereitung auf den zweiten Test nutzen. Nach meiner Rückkehr fand dann vor dem Test eine Fragestunde statt – und ich musste feststellen, dass so gut wie niemand vorbereitet war. Vier Tage vor dem Test hatten nur wenige etwas gelernt und konnten entsprechend kaum Fragen stellen – der Test fiel am Ende besser aus als der erste, aber es hätte besser sein können.
Ein weiterer Problemfaktor stellt die Sprache dar. Viele haben einige Probleme mit Englisch. Dieser Problematik war ich mir bereits vor Beginn bewusst. Denjenigen, bei denen ich Zweifel hatte bezüglich ihrer Sprachkenntnisse, wollte ich aber eine Chance geben regelmäßig Englisch zu hören und zu sprechen, so dass sie somit die Sprachkenntnisse verbessern - was für das Leben in Kakuma immens wichtig ist. Bei einigen haben sich die Sprachkenntnisse auch sehr verbessert. Nichtsdestotrotz für das Unterrichten von Business Management sind die fehlenden Kenntnisse ein Problem.

Und wie blicke ich nun auf meinen Kurs? Aufgrund der Lebensumstände vieler Flüchtlinge, darf ich andere Punkte nicht aus den Augen verlieren. 
  • Drei Flüchtlinge legen von ihrer Unterkunft bis zum „Vorlesungssaal“ 4 – 5 km zu Fuss zurück, um an der Veranstaltung teilzunehmen, hin- und zurück also 8 – 10 Kilometer (!) - und zwar bei glühender Hitze (entweder der Hinweg oder Rückweg ist bei ca. 38 Grad im Schatten zu bewältigen!). Andere legen immerhin einen Hin- und Rückweg von bis zu 6 Kilometern zu Fuss zurück. Wie viele Kilometer würde ich bei diesen Bedingungen zurücklegen, um am Kurs teilzunehmen?
  • In den kleinen Hütten haben die meisten keinen richtigen Platz bzw. Tisch zu lernen. Dies macht das Studieren natürlich schwieriger. Ich weiß, wie schwer ich mir tat zu lernen, ohne einen abgeschiedenen Platz.
  • Die Schulbildung ist nicht prickelnd. Im Unterricht fragte ich, ob jemand schon einmal etwas von einer Ableitung in Mathematik gehört hat. Alle schauten mich fragend an. Daraufhin gab ich ein einfaches Beispiel und nur meine beste Studentin hatte schon einmal davon gehört, konnte aber nichts Konkretes damit anfangen. Diese Kenntnisse sind letztlich nicht für meinen Kurs notwendig, aber es zeigt mir, dass logisches Denken in der Schule nicht eingeübt wird.
  • Einige haben Geschwister oder Eltern, um die sie sich kümmern müssen. Ebenso versuchen viele ein wenig Geld zu verdienen. Daher haben sie insgesamt wenig Zeit zu studieren.
  • Die teilnehmenden Frauen sind auch noch stark mit Hausarbeit beschäftigt. (Männer sind davon per se befreit, sobald eine Frau im Haushalt lebt – sei es die Schwester, die Cousine, die Tochter, die Ehefrau...)
Die Augen vollständig geöffnet wurden mir, als eine meiner Studentinnen mir ihre Lebensgeschichte erzählte. Wenn ich mir ihre Geschichte vor Augen halte, dann kann ich meinen Studenten nicht böse sein. (Ihre Lebensgeschichte poste ich demnächst unter dem Titel: Ayana – Eine Frau gibt nicht auf!)

Zweifellos kann ich feststellen, dass sich meine Studenten stark entwickelt haben. Zusammenhänge werden schneller erkannt und Ängste vor Unbekanntem sind geringer. Übungen für zu Hause gebe ich kaum noch – der Stoff sollte zu Hause nochmals angeschaut werden. Für Übungen kann auch Teile des Unterrichts verwenden – ich kann dann zwar nicht so viel Stoff vermitteln, aber schlimm finde ich dies mittlerweile nicht mehr. Und beim Unterrichten muss ich einen Mittelweg finden, so dass diejenigen, die zu Hause lernen nicht gelangweilt sind und die anderen doch irgendwie folgen können. Es ist ein Spagat, um allen die Chance zu geben etwas aus dem Kurs mitzunehmen; dies ist mein großes Anliegen in der Arbeit mit meinen Flüchtlingen. Die Unterrichtsstunden sind für mich jedenfalls zwei Höhepunkte in der Woche. Unterrichten bereitet mir Freude. Hätte ich mir dies im Vorfeld jemals träumen lassen?

Dienstag, 28. Februar 2012

Business Mangement & Entrepreneurship
oder
Zwei Kulturen treffen aufeinander

Neben meiner Tätigkeit als Computerspezialist habe ich seit einiger Zeit noch einige andere Aufgaben übernommen, so unterrichte ich u.a. seit Oktober rund 20 Flüchtlinge in Business Management & Entrepreneurship. Insgesamt dauert der Kurs 22 Wochen und dauert rund 130 Stunden. Mein Kurs hat das Ziel Menschen eine Idee zu geben, was zu beachten ist, wenn jemand einen Laden, Restaurant oder ein Handwerk eröffnen will. Allerdings möchte ich nicht viele Fakten darlegen - diese sind schneller vergessen als man schauen kann. Es geht mir vielmehr darum meinen Studenten ein Gespür für wirtschaftliches Handeln zu vermitteln. Meine Zielsetzung teilte ich den Studenten in der ersten Woche mit: "Mir ist es nicht so wichtig, ob ihr in einem Jahr noch etwas von BWL wisst. Falls dies der Fall ist, wunderbar. Falls ihr wieder alles vergessen habt, man kann es in Büchern wieder nachlesen. Für mich ist es jedoch viel wichtiger, dass ihr am Ende des Kurses die Welt mit anderen Augen betrachtet, dass ihr beginnt die Welt mit ihren Möglichkeiten zu betrachten und einzelne Alternativen zu erwägen, und zu erkennen wie Dinge verwoben sind, wenn ein Faktor verändert wird, wie dies einen Einfluss auf andere Dinge hat... " Dass der Lerninhalt nicht so wichtig ist und auch wieder vergessen werden kann, war für meine Studenten sichtlich ein Schock. Das Schulsystem und wohl auch das Universitätssystem ist darauf ausgerichtet gehörte Dinge schlicht auswendig zu lernen und widerzugeben. Um mein Ziel zu erreichen, entschloss ich mich zu Beginn Mikroökonomie zu unterrichten; also wie sich Verbraucher und Unternehmen wirtschaftlich verhalten und Ressourcen und Güter durch den Markt verteilt werden, Grundkenntnisse in diesem Gebiet können auch nicht schaden, wenn jemand ein Geschäft hat.

Als ich mir das Konzept überlegte und mich entschloss, dass Studenten lernen sollen zu denken und dafür Mikroökonomie zu verwenden, war ich mir auch einer Gefahr bewusst, nämlich dass viele überfordert sein könnten. Aber gehört eine vernünftige Überforderung nicht zum Lernprozess dazu? Sollten Frustrationen nicht durchaus vorkommen dürfen, wenn sich selbstverständlich immer wieder Erfolgserlebnisse einstellen?

Und mit noch einer zweiten Aussage schockierte ich sie, und zwar erklärte ich: "Ich respektiere Euch und Eure Freiheit. Ich selbst liebe die Freiheit - und es ist jedem freigestellt zur Klasse zu kommen oder nicht. Wenn jemand etwas anderes wichtiges zu tun hat, dann ist dies kein Problem für mich. Ich selbst ging auch nicht immer in die Vorlesung. Ich erinnere mich, dass ich in manchen Vorlesungen von 20 Veranstaltungen nur zwei oder drei Mal war. Aber mit der Freiheit ist noch etwas anderes verbunden, und zwar Verantwortung, die Verantwortung den Stoff ggf. irgendwie nachzuholen und die Tests zu bestehen. Wenn ich nicht in Vorlesungen ging, so musste ich mir überlegen, wie ich den Stoff nachhole und dann das Examen ordentlich bestehe." So viel Eigenverantwortung zugestanden zu bekommen ist in dieser Kultur für viele ein Novum, und irgendwann fragte ich mich, ob ich nicht meine Studenten mit meiner Einstellung überfordere. Wenn jemand im Fernstudienprogramm einige Zeit nicht auftaucht, so wird er angerufen und es wird nachgeharkt und darum gebeten die Aufgaben zu erledigen (mir erscheint dies, als ob die Studenten nicht wie Erwachsene, sondern wie Grundschüler behandelt werden). Ja, zwei Kulturen treffen aufeinander.

Um den Stoff zu vertiefen bzw. zu wiederholen äußerte ich auch die Erwartung, dass ausgeteilte Texte und Übungen alleine oder in der Gruppe bearbeitet werden, und wenn dafür eben zwei oder drei Stunden pro Woche notwendig sind, dann gehört dies eben dazu. Sollte dies zu viel erwartet sein?

Sollten sich meine Reden rächen? Hatte ich zu hohe Ansprüche, vielleicht sogar vollkommen unrealistische Erwartungen? Können die zwei aufeinandertreffenden Kulturen und Sichtweisen in Einklang gebracht werden?
Dazu demnächst mehr unter dem Titel:

Montag, 6. Februar 2012

Kein Geld, keine Hochzeit, dafür Schuldgefühle

Viele Flüchtlinge sehen sich mit Schwierigkeiten konfrontiert ihren persönlichen Lebensentwurf zu verwirklichen, so z.B. wenn sich ein Paar gerne in der Kirche trauen ließe, ihnen jedoch viele Steine in den Weg gelegt werden und sich das Paar letztlich sogar noch schuldig fühlt nicht kirchlich geheiratet zu haben. Ein Beispiel hierfür ist John.
Als ich im Oktober 2010  in Kakuma ankam, wurde bereits
am ersten Sonntag in der Kirche eine Hochzeit gefeiert.
Dies blieb in den drei Kapellen, in die ich abwechselnd
gehe, ein absoluter Einzelfall.
John ist ein Student im Fernstudienprogramm und auch in der katholischen Kapelle sehr stark engagiert ist. Er hat eine Frau und drei kleine Kinder. Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein, doch sind die Eheangelegenheiten noch nicht vollständig erledigt. Zwar ist John mit seiner Frau standesamtlich verheiratet, doch nicht kirchlich. Er möchte gerne kirchlich heiraten und den Segen Gottes für seine Ehe erhalten, doch er kann es nicht. Wie kommt es dazu?

In Afrika gibt es noch immer die Mitgift zu bezahlen. Im Gegensatz zu Indien oder in Europa früher, muss hier in Afrika meist der Bräutigam der Familie der Braut die Mitgift bezahlen. Solange diese Mitgift nicht bezahlt ist, darf das Paar nicht kirchlich heiraten. Basta! Doch wer hindert sie daran nicht trotzdem kirchlich zu heiraten? Falls die Familie der Braut auf irgendeine Weise erfährt, dass eine kirchliche Hochzeit ohne die Begleichung der geforderten Mitgift erfolgte, so hat der Tradition nach die Familie der Frau das Recht die Frau und die Kinder dem Ehemann wegzunehmen. In Johns Fall fordert die Familie seiner Frau 10.000 US Dollar. Die Summe ist vollkommen aberwitzig - er wird nie im Stande sein diese Summe aufzubringen, höchstens vielleicht, falls er eines Tages von einem westlichen Land eingeladen wird dort zu leben (selbst dann wird es sehr schwierig sein die Summe aufzubringen und in einem solchen Fall werden er und seine Familie weit weg sein, so dass die Familie seiner Frau keine Möglichkeit hat die Kinder und seine Frau wegzunehmen bzw. zu erfahren, ob er kirchlich geheiratet hat). Wie kommt eine solche Forderung zustande? Entweder die Familie der Frau versucht auf diese Weise verzweifelt an Geld zu kommen oder die Familie will der Beziehung der beiden Menschen nicht zustimmen. Leider ist John kein Einzelfall - es gibt hier viele solcher Fälle, besonders unter Sudanesen. Ein weiterer Grund weshalb viele nicht heiraten können, liegt darin, dass die Dorfgemeinschaft anlässlich einer Hochzeit ein Fest erwartet, welches man sich ebenfalls nicht leisten kann.

Freunde, Nachbarn und Bekannte kommen und gratulieren nach der Messe.
Und warum haben die Leute nun Schuldgefühle? Der erste Grund besteht darin, dass jemand nach nur einer standesamtlichen, aber nicht nicht kirchlichen Hochzeit offiziell nicht zur Kommunion gehen kann. Die Menschen hier folgen dieser Regel und fühlen sich vermutlich auch ein wenig ausgeschlossen (Sollte die katholische Kirche für solche Fälle nicht leicht einen Weg finden können, um trotzdem den Empfang der Kommunion zu ermöglichen?). Zweitens fühlen sich betroffene Menschen schuldig, da ihrer Meinung nach der Segen Gottes nicht auf der Familie liegt.

Als vor zwei Wochen am Sonntag kein Priester in Camp war, habe ich einen Wortgottesdienst gehalten. Da im Evangelium die Berufung der Jünger vorkam, nutzte ich die Chance und redete über die Schwierigkeiten die persönliche Berufung zu leben und griff als einen Hauptpunkt das Thema die wegen Geldmangel versagte kirchliche Hochzeit auf. Dabei ging ich nicht auf die damit verbundene Tradition und Kultur ein - es steht mir nicht zu darüber zu urteilen und würde auch bei den Menschen nicht gut ankommen – sondern ich ging darauf ein, wie Gott eventuell eine solche Beziehung sieht.
Daher sagte ich u.a: "Wenn zwei Menschen ihrem Herzen folgen und sie sich entscheiden in Treue ihr Leben miteinander zu verbringen, einander lieben und in Liebe ihre Kinder annehmen und erziehen, sollte die Beziehung mangels Geld scheitern? Sollte die Beziehung daran scheitern, dass unglaubliche Geldbeträge als Mitgift verlangt werden und nicht die Liebe zweier Menschen akzeptiert wird? Sollte eine Beziehung daran scheitern, dass ein Paar sich nicht eine große Feier für ihre Gemeinschaft leisten kann? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Gott eine Beziehung scheitern lassen will, nur weil nicht genügend Geld für eine kirchliche Hochzeit vorhanden ist. Und ich glaube auch, dass sich in einem solchen Fall das Paar nicht schuldig fühlen muss - es ist nicht der Fehler des Paares, dass eine kirchliche Hochzeit nicht stattfinden kann. Vielmehr glaube ich, dass Gottes Segen auch auf einer solchen Ehe liegt."

Freitag, 27. Januar 2012

Lebensgeschichten
oder
20 Jahre im Flüchtlingslager, und wie geht's weiter?

Heute berichte ich die Lebensgeschichte von Amare aus Äthiopien. Bereits seit knapp 20 Jahren ist Amare ein Flüchtling und davon fast die gesamten  20 Jahre in Kakuma. Amare kommt aus einem ländlichen Gebiet; seine Eltern bestellten ein wenig Land und hatten einige Tiere. Als Amare etwa 13 Jahre alt ist, belagern Rebellen sein Dorf und zerstören schließlich auch die Schule. Die Bevölkerung wundert sich über das Vorgehen der Rebellen, denn eigentlich haben Rebellen zum Ziel die Regierung zu stürzen. Warum werden dann die eigenen Landsleute belagert und die Schulen zerstört. Die Antwort ergibt sich bald, als Rebellen beginnen Jugendliche zu rekrutieren. Wenn Jugendliche keine Möglichkeit mehr haben die Schule zu besuchen, schließen sie sich bereitwilliger den Rebellen in deren Kampf an.
Kurz darauf bricht eine Dürre- und Hungerkatastrophe über das Land herein - viele schließen sich den Rebellen oder dem Militär an – dort gibt es immerhin genügend zu essen. In dieser Zeit baut eine westliche Organisation Waisenhäuser mit Schulen auf. Amare täuscht vor ein Waise zu sein – seine Mutter starb zwar einige Jahre zuvor, sein Vater lebt jedoch noch. Auf diese Weise bekommt Amare die Chance die Schule zu besuchen und ist davor geschützt entweder von der Regierungsarmee oder den Rebellen gewaltsam rekrutiert zu werden. Im Jahr 1990 kann Amare seine Schulbildung abschließen. 

In Kakuma gibt es einge äthiopische Restaurants. Auf dem
Foto ist das Team des Education Centers zu sehen, welches
zum Abschied von P. Chris Jenkins SJ im äthiopischen
Restaurant zu Mittag aß.
Amare entschließt sich an der Universität in Addis Ababa zu studieren. Sein Heimatort wird zu dieser Zeit von Rebellen belagert, so dass er nicht mehr seinen Vater besuchen will. Er fürchtet die Rebellen könnten herausgefunden haben, dass er sich mit einem Trick in die Schule geschmuggelt hat, um vor den Rebellen zu entkommen. Die Rebellen würden dies mit Folter und Mord bestrafen. 1991 gelangen schließlich die Rebellen an die Macht und versprechen Demokratie. Amare hofft auf eine bessere Zeit, doch diese Hoffnung wird bald getrübt. Er möchte an einer Demonstration teilnehmen, als Eritrea die Unabhängigkeit anstrebt. Als er mit anderen Studenten die Universität verlässt, um zur Demonstration zu gehen, stehen sowohl Polizisten als auch Anhänger der neuen Regierung vor der Tür und töten mit Schusswaffen und Messern. Amare zieht sich glücklicherweise nur einige Schnittverletzungen zu. Aufgrund der Auseinandersetzungen flieht Amare in ein Flüchtlingslager im Nordosten Kenias. Dort bleibt er ein halbes Jahr – doch aufgrund von Krankheiten und einer schwierigen Nahrungsmittelversorgung, zieht er es vor nach Äthiopien zurückzukehren, nach Möglichkeit einen Universitätsabschluss zu machen und seine Familie finanziell zu unterstützen. Er kann zunächst sein Studium fortsetzen, wird dann aber bald von der Universität ausgeschlossen. Kurz darauf wird er festgenommen und immer wieder unter Folter verhört. Er wundert sich, was die Behörden alles Wissen und schließlich erfährt er auch, was er alles in Kenia seinen Freunden und Bekannten erzählte. Das Regime hatte also seine Spitzel im Flüchtlingslager in Kenia. Als er offiziell mit vielen anderen in ein anderes Gefängnis verlegt werden soll, gelingt ihm und einigen anderen die Flucht. Wäre ihm dies nicht gelungen, so wäre er wohl ermordet worden. Bei Verlegungen in andere Gefängnisse wurden die Gefangenen oftmals nur auf das Land gefahren und auf freiem Feld erschossen. Ihm gelingt es seine Tante in Addis Abeba kurz zu besuchen und mitzuteilen, was geschehen war. Er flieht dann nach Kenia und kommt nach Kakuma. In Kakuma trifft er alte Bekannte aus dem anderen Flüchtlingslager – ihnen berichtet er nicht, dass er nochmals in Äthiopien war (sie würden ihn für einen Spion halten), sondern erzählt, dass er an der Küste illegal gearbeitet habe. Lange Zeit hat Amare die Hoffnung nach Äthiopien zurückkehren zu können und seine Familie zu unterstützen. Diese Hoffnung verliert er aber mit dem Ausgang der Wahlen in 2005 – die Regierung weigert sich die Macht an die siegreiche Opposition zu übergeben.

Über die Jahre hinweg gehen Amare viele Dinge durch den Kopf. Mit seinem Vater hat Amare von 1989 an keinen Kontakt mehr. Er fühlt sich schuldig, dass er seinen Vater nicht unterstützt – dies gehört in seiner
P. Chris Jenkins und ich in einem anderen äthiopischen
Restaurant nach dem Feierabend auf einen Kaffee wartend.
Kultur zu den Pflichten der Söhne. Daher fällt es Amare schwer das „Vater unser“ zu beten – dabei wird er an seine Vater und seine Pflicht erinnert und fühlt sich schuldig. Amare geht davon aus, dass sein Vater bereits längst verstorben sein muss. Über das Internet findet Amare im Jahr 2010 einen ehemaligen Freund im Dorf seines Vaters und erfährt, dass sein Vater noch lebt – er ist mittlerweile Mitte 80. Anfang 2011 kann er seinen Vater dann in Nairobi treffen – und sein Vater erleichtert ihm sein Gewissen – der Vater ist bereits glücklich zu sehen, dass sein Sohn noch lebt und einigermaßen gesund ist.

Amare sagt, dass er während seines Aufenthalts in Kakuma viel gelernt hat – wie z.B. über Kulturen und Toleranz oder wie wichtig die Zugehörigkeit zu einem Volk ist. So trifft es ihn immer wieder bis ins Mark, wenn er von Einheimischen hört, dass das Land den Turkanas gehört und sie die Flüchtlinge zwangsläufig dulden müssen. Ebenso trifft es ihn stets, wenn Menschen behaupten, er sei aus wirtschaftlichen Gründen in Kakuma. Gerne wäre Amare an einem anderen Ort und würde für seinen Lebensunterhalt arbeiten, doch abgesehen von kleinen Arbeiten für NGOs dürfen Flüchtlinge keine Arbeit aufnehmen. Amare ist wie die meisten Flüchtlinge auf die vierzehntägig ausgeteilten Lebensmittelrationen des World Food Programs angewiesen. Er schämt sich dorthin zu gehen und um Essen zu betteln, entsprechend ist er froh, dass mittlerweile ein Nachbar seine Ration für ihn abholt.

Seit fast 20 Jahren lebt Amare in einer Gegend mit einem Klima, welches ihm nicht zusagt. Amare weiß nicht wie lange er noch in Kakuma bleiben muss. Er sagt: "Im Gefängnis ist wenigstens klar nach wie vielen Jahren  man wieder frei ist, doch hier weiß niemand wie lange jemand noch bleiben muss. Wer weiß, wie lange ich noch bleiben muss!" Die Ungewissheit darüber wie lange er noch in Kakuma bleiben muss, zermürbt ihn. Aber er möchte auch nicht sagen, dass sein Leben schlecht sei – dies würde er als Gotteslästerung empfinden, denn schließlich kann er dankbar sein noch zu leben, gesund zu sein und genügend zu essen zu haben.

Samstag, 7. Januar 2012

Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?
oder
Die Christmette in der äthiopisch orthodoxen Kirche

Bei Gesang und Tanz freuen sich die äthiopischen
Christen über die Geburt Christi. Im Hintergrund
ist die Wand zwischen Altarraum und
Kirchenschiff zu sehen, die mit Ikonen verziert ist.
Es ist schon wieder zwei Wochen her, dass der Heilige Abend und Weihnachten gefeiert wurde. Der Alltag hat sich wieder eingestellt. Kann da jetzt schon wieder Weihnachten gefeiert werden? Ja, und zwar feiert die orthodoxe Kirche das Weihnachtsfest 13 Tage später als die Kirchen des Westens. Hier in Kakuma feierten nun die äthopisch-orthodoxen Christen Weihnachten. Im Education Center arbeitet ein äthiopischer Flüchtling, mit welchem ich an der Liturgie der Weihnachtsnacht teilnahm. Eine kleinere Schwierigkeit bestand darin abends gegen 20 Uhr ins Camp zu gelangen, was in der Regel gar nicht so einfach ist, da die großen Tore, welche einzelne Teile des Lagers von einander trenne aus Sicherheitsgründen bei Einbruch der Dunkelheit gegen 19:00 Uhr verschlossen werden. Aber mit einem kleinen Trick gelang es mir ins Lager zu kommen. Dann verbrachte ich bei meinem Kollegen noch etwa eine Stunde, bevor wir zur äthiopischen Kirche aufbrachen. Die orthodoxe Kirche ist sehr schön ausgestattet - die Wände gestrichen, kleine Ikonen sind an den Seitenwänden, die Ikonostase (das ist die Wand zwischen dem Altarraum und dem inneren Kirchenschiff) ist mit großen Ikonen geschmückt und der Boden mit Teppichen bedeckt. Dagegen wirkt die sehr karge katholische Kapelle nahezu trostlos.
Bei unserer Ankunft wurden wir vom Priester in die Kapelle gebeten. Der Priester ist ebenso wie zwei Mönche ein Flüchtling. Die beiden Mönche und der Priester haben in Kakuma Zuflucht gefunden und sind für die äthiopischen Christen in Kakuma ein großes Geschenk, da so orthodoxe Gottesdienste stattfinden können. Von 21:30 Uhr bis 1 Uhr nachts wurde gebetet, gesungen und vor Freude ueber die Geburt des Herrn getanzt. Um 1 Uhr begann dann der Gottesdienst, welcher sich bis kurz vor 4 Uhr hinzog, die gesamte Feier dauerte also 6 1/2 Stunden. Zum anschließenden Snack musste ich dann auch noch, so dass ich erst gegen 4:45 Uhr wieder bei meinem Kollegen ankam und mich dort auf's Ohr legen konnte (die Nacht war kurz, da wir hier ja auch samstags arbeiten).
Für mich persönlich war es ein Erlebnis diese Liturgie einmal zu erleben - auch wenn ich nichts verstanden habe, da natürlich alles in der liturgischen Sprache Ge'ez statt fand. Es war für mich erstaunlich, dass  keine Ikonen verehrt wurden (wie es sonst in orthodoxen Kirchen meist der Fall ist) und erst am Ende des Gottesdienstes Kerzen angezündet wurden, als eine Prozession um die Kirche stattfand. Sichtlich freuten sich einige Menschen über meine Anwesenheit. Im Anschluss wurde mir klar, dass für einige meine Anwesenheit ein Zeichen einer ökumenischen Verbundenheit darstellte, denn viele der Äthiopier wissen mittlerweile durch meinen Kollegen, der Community Leader für einen Teil der Äthiopier ist, dass ich irgendwie ein Kirchenmann bin. Mir scheint, dass viele den Eindruck haben - weißer Mann also ist er auch ein Kirchenmann. Dies ist momentan in Kakuma ja auch der Fall - die einzigen drei weißen Männer in Kakuma sind Jesuiten. Allerdings wissen viele Äthiopier mich nicht richtig einzuordnen - einige nennen mich Pater, andere Bruder und für andere bin ich ein weißer Katholik, der hier in Kakuma arbeitet.

Der Freudentanz und -gesang der Gläubigen im nachfolgenden Video war das Ende der Gebetszeit und kurz danach begann die Messfeier. Insgesamt ist es sehr dunkel - liegt zum einen daran, dass die Beleuchtung nicht so prickelnd war und zum anderen an den Weihrauchschwaden im Raum - an Weihrauch sparen unsere orthodoxen Brüder jedenfalls nicht.

Allen orthodoxen Christen wünsche ich eine gesegnete Weihnachtszeit!