Montag, 26. März 2012

Lebensgeschichten
oder
Ayana, eine Frau gibt nicht auf!

Ayana ist 22 Jahre alt und seit 2009 in Kakuma. Geboren und aufgewachsen ist Ayana in Mogadischu. Ihre Eltern hatten 5 Töchter, von denen Ayana die älteste ist. In Mogadischu hat Ayana die Möglichkeit die Schule zu besuchen. Wer in Somalia studieren will, wird aufgrund der Schulnoten eingestuft und es wird einem ein Studienfach zugewiesen, so werden z.B. die besten Schüler u.a. zum Medizinstudium eingeteilt. Ayanas Schulabschluss ist sehr gut und sie wird dem Studienfach Rechtswissenschaften zugewiesen, wobei sie eigentlich unbedingt Wirtschaftswissenschaften studieren will. Im Jahr 2007 wird ihr Vater in Mogadischu ermordet. Er war ein Beamter der Regierung und wurde wahrscheinlich von Rebellen oder Oppositionellen ermordet, aber so genau weiß dies niemand, schließlich gibt es sehr viele bewaffnete Konflikte. Der Verlust des Vaters ist ein harter Schlag für die Familie.
Von den ca. 85.000 Flüchtlingen in Kakuma,
stellen Somalis mit 45.000 die größte Gruppe
dar. Sie kamen vorwiegend zw. 2005 und 2009
nach Kakuma.
Um ein Einkommen zu haben, eröffnet die Mutter daraufhin ein Geschäft. Im Jahr 2008 geschieht dann etwas für Ayana Unglaubliches. Sie sitzt abends vor dem Fernseher – mit ihr im Raum sind noch ihre Mutter und eine Bekannte der Mutter. Der Nachbar klopft an, tritt in das Zimmer ein, zieht eine Pistole und geht zunächst auf die Mutter zu, erschießt zunächst sie und daraufhin die Bekannte. Dann geht der Nachbar wieder. Ayana ist sich sicher, dass der Nachbar sie aufgrund der Raumaufteilung und des Sofas nicht sah. Ansonsten hätte er sie ebenfalls erschossen. Die Bilder der erschossenen Mutter gehen ihr nicht aus dem Kopf. Und als sie den Tod der Mutter schildert, fragt sie immer wieder wieso...
Der Nachbar wurde von Ayanas Vater stets unterstützt. Er durfte im angrenzenden Haus wohnen, ihm wurde finanziell unter die Arme gegriffen... Die Beziehung zum Nachbarn war bis zu diesem Zetpunkt stets gut. Ayana flieht mit zwei Schwestern (eine ist erst zwei Jahre alt) durch den Hinterausgang und findet Zuflucht bei ihrer Tante, dorthin kommt dann auch noch die andere Schwester. Die kleine Schwester stirbt bald darauf, weshalb ist nicht klar. Der Mann der Tante möchte Ayana nach einiger Zeit verheiraten – es ist so üblich und bringt Geld ein. Ayana soll Kinder bekommen und im Haushalt arbeiten. Der Wunsch Ayanas weiter studieren zu dürfen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, soll nicht berücksichtigt werden. In dieser Zeit erfährt Ayana irgendwann, dass der Nachbar den Teil des Hauses von Ayanas Familie eingenommen hat und „besitzt“ nun das ganze Haus, in welchem er zuvor nur wohnen durfte.
Ayana will nicht in Somalia bleiben. Irgendeinen Mann heiraten, zu Hause sitzen, kochen, waschen und nicht studieren dürfen... Das schreckt sie ab. Und dann kommt noch die Unsicherheit hinzu – die vielen Konflikte und immer wieder werden Menschen ermordet. Ayana beschließt mit ihren Schwestern zu fliehen. Zu Fuss gehen sie von Mogadischu nach Kenia. Auf dem Weg stirbt eine der beiden Schwestern, welche sie zurücklassen müssen. An der kenianisch-somalischen Grenze wartet ein Freund des Vaters und hilft ihnen. Mit diesem Freund kommt sie 2009 nach Kakuma, die damals 17-jährige Schwester lebt in Nairobi und geht bis heute zur Schule.

Flüchtlinge müssen Brennholz zum Kochen bei der einheimischen
Volksgruppe, den Turkanas kaufen. Im Bild zu sehen sind drei Turkana
Frauen (mit Perlen um den Hals), welche Brennholz verkaufen sowie
5 somalische Kundinnen. 

Doch auch hier in Kakuma ist das Leben hart. Ayana lebt bei der Familie des Familienfreundes. Für die achtköpfige Familie (6 Kinder, Mann, Frau) muss Ayuna putzen, kochen, Wäsche waschen und mit den Kindern lernen. Das älteste Kind ist 18. Ob ihr jemand hilft? Nein, bis sie kam hatte die Familie eine Turkana (eine Frau der einheimischen Volksgruppe) angestellt. Die Kinder der Familie wissen nicht, wie man verschiedene Dinge macht und sie wollen es auch nicht wissen. Die Frau hat ein Geschäft und will sich nicht mit Hausarbeiten abgeben. Und ein Mann ist hier grundsätzlich von Hausarbeiten befreit. Als Ayana davon erzählt, weint sie abermals. Sie wird ausgenommen, vielleicht sogar misshandelt. Von der Familie wegzugehen und alleine zu leben ist unmöglich, zu gefährlich. Und nun wird sie abermals von verschiedenen Seiten aufgefordert zu heiraten, schließlich sei sie ja schon 22 Jahre alt und immer noch nicht verheiratet.

Ich frage Ayana, ob sie nicht zur Organisation gehen will, die solche Fälle registriert und sie in einen Sicherheitsbereich bringen könnte. Aber dies will sie nicht. Ayana hat eine Tätigkeit beim UNHCR als Übersetzerin, und diese Tätigkeit könnte sie dann nicht mehr ausüben. Sie verdient vielleicht 60 oder 70 Euro im Monat, mit denen sie ihre Schwester in Nairobi unterstützen kann. Am liebsten würde Ayana weggehen, aber ihre Schwester ist ja noch da, für die sie sich verantwortlich fühlt und die sie unterstützen will. Ayana will nicht aufgeben.
Ayana ist eine meiner Studentinnen im Business Management Kurs (siehe: Business Management & Entrepreneurship - Zwei Kulturen treffen aufeinander und Die Leiden des Lehrers). Auch Ayana kommt immer wieder in den Unterricht ohne Übungen oder Wiederholung gemacht zu haben. Sie kommt zu spät und schaut mich häufig mit großen, fragenden Augen an, die mir sagen, dass sie wenig verstanden hat. Aber ist dies bei ihrer Lebensgeschichte und ihren Lebensumständen nicht logisch? Wenn ich mir ihre Lebensgeschichte und Lebensumstände vor Augen halte, habe ich bereits großen Respekt, dass Ayana überhaupt am Kurs teilnimmt - und meine "westlichen" Vorstellungen des Studiums sind nun hoffentlich relativiert. Wer weiß womit die anderen zu kämpfen haben, die scheinbar (!) nicht so fleißig sind.

Dienstag, 13. März 2012

Business Mangement & Entrepreneurship (2)
oder
Die Leiden des Lehrers

Wie in meinem letzten Post berichtet (siehe: Business Management & Entrepreneurship oder Zwei Kulturen treffen aufeinander), unterrichte ich Flüchtlinge in Business Management und versuche ein Gespür für wirtschaftliches Handeln zu vermitteln. Sollten sich meine Reden gegenüber Studenten zu Verantwortung und Freiheit oder zum Stellenwert von Fachwissen rächen? Waren meine Erwartungen an die Studenten zu Hause zwei oder drei Stunden pro Woche mit Übungen zu verbringen unrealistisch?

Im Laufe des Kurses haben es meine Studenten regelmäßig geschafft mich zur Verzweiflung zu bringen – und manchmal beginne selbst ich an mir zu zweifeln. Pünktlichkeit gehört mit Sicherheit nicht zu den afrikanischen Tugenden. Das afrikanische Sprichwort „Ihr in Europa habt die Uhren, wir haben die Zeit“ trifft es durchaus auf den Punkt. Bereits in den ersten Wochen war es durchaus üblich, dass bei Unterrichtsbeginn um 9:30 Uhr nur einige Leute anwesend waren. Ich begann dann vielleicht mit 5 Minuten Verspätung zu unterrichten und nacheinander kamen sie dann in die Vorlesung. Nach 45 oder 55 Minuten kamen dann auch die letzten.
Manchmal sitze ich verzweifelt mit offenem
Mund und Händen vor dem Kopf am
Schreibtisch und frage mich, wie ich mit
meinen Studenten umgehen soll.
Prinzipiell sollte mir dies gleichgültig sein, wenn, ja wenn nicht die zu spät Kommenden dann Fragen stellen und meinen sie würden den Inhalt nicht verstehen. Es ist kein Wunder, dass die Inhalte nur noch schwer verstanden werden. Wenn jemand 50 Minuten zu spät kommt und die Inhalte aufeinander aufbauen, dann wird er viele Dinge nur noch schwer verstehen. Immer wieder verwies ich auf die Punkte Freiheit und Verantwortung – und ich könne nicht alles mehrmals erklären, schließlich sollen sich diejenigen, die pünktlich gekommen sind, nicht langweilen und damit für ihre Pünktlichkeit bestraft werden. Andererseits entwickelte ich mit der Zeit auch ein wenig das Gefühl, dass in den kommenden Wochen einige den Kurs verlassen könnten, da sie nichts mehr verstehen – und vor nur einigen, wenigen Menschen zu unterrichten bereitet keine Freude. (Geschweige denn, dass ich gerne einer großen Zahl an Menschen etwas mitgeben möchte). Sollte ich den Unterricht mit einer größeren Verspätung beginnen? Dann werden diejenigen bestraft, die einigermaßen pünktlich sind.

Die Problematik erkannte ein Student schließlich auch selbst. In den Weihnachtsferien bestand zur Vorbereitung auf einen Test das Angebot fuer eine "Fragestunde" von 9 Uhr bis 12 Uhr, um Ungereimtheiten zu besprechen. Einige wenige kamen – was für mich kein Problem war. Gegen 11:35 Uhr kam dann einer hinzu – ein wenig spät. Mit den bereits Anwesenden war ich gerade im Besprechen einer Übungsaufgabe, so dass ich dann um 11:45 Uhr zum Neuankömmling meinte: „Nun hast Du noch 15 Minuten Zeit Fragen zu stellen.“ Er schaute mich an – und ich ergänzte lediglich: „Die Vereinbarung war, dass ich von 9 Uhr bis 12 Uhr zur Verfügung stehe. Du kommst eben doch ein wenig spät. Und nebenbei in die Vorlesungen bist Du auch immer 45 bis 60 Minuten zu spät gekommen – falls überhaupt.“ Worauf er nur erwiderte: „Ja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Nebenbei erwähnt: Er war auch nicht im geringsten auf die Fragestunde vorbereitet – er hätte keine Frage stellen können. Im Test in der darauffolgenden Woche hatte er 0 von 36 Verrechnungspunkten – die drei besten Studenten hatten hingegen 33 von 36 Punkten.

Und wie sieht es mit dem Bearbeiten von Übungsblättern zu Hause aus? Ziemlich schlecht. Anfangs gab ich Aufgaben aus, die zu bearbeiten sind – ohne jedoch Übungen zu kontrollieren. Sehr schnell bemerkte ich, dass nur wenige sich zu Hause Gedanken gemacht hatten. Auch die Kopien aus einem Buch, in welchen der Stoff nochmals erklärt wurde, wurde nicht wirklich gelesen. Zunächst störte mich dies nicht – als Student war ich während der Vorlesungszeit ebenfalls nicht der Fleißigste, aber ich lernte vor den Prüfungen ohne Ende. Als jedoch der erste Test kam und eine Reihe auch dafür nicht wirklich gelernt hatten, brachte mich dies zur Verzweiflung. Lag es an meinem Unterrichtsstil? Lag es an zu vielen eingestandenen Freiheiten und einer damit verbundenen Überforderung der Studenten? Hätte ich mehr die Übungsaufgaben kontrollieren sollen? Eine Studentin, die in der Vorlesung wirklich nicht viel verstand (mit Mathematik und Logik steht sie klar auf Kriegsfuss), begann vor der Prüfung zu lernen – und sie bestand den Test mit einer guten Note. Machbar war der Test also durchaus und sie hat im Nachhinein ziemlich viel verstanden. Woran lag es also? Zwei afrikanische Mitbrüder meinten zu mir: „Erstens sich Gedanken zu machen und nicht einfach nur zu reproduzieren, ist für Studenten hier Neuland. Zweitens wollen hier in Afrika Studenten nur gute Noten haben, aber sie wollen nicht lernen.“ Dies ist sicherlich sehr verallgemeinert – aber es trifft bis zu einem gewissen Grad durchaus zu. Für die Aussagen meiner Mitbrüder fand ich letzte Woche leider eine Bestätigung. Ich war im Februar für eine Woche in Nairobi und diese Zeit sollten meine Studenten für die Vorbereitung auf den zweiten Test nutzen. Nach meiner Rückkehr fand dann vor dem Test eine Fragestunde statt – und ich musste feststellen, dass so gut wie niemand vorbereitet war. Vier Tage vor dem Test hatten nur wenige etwas gelernt und konnten entsprechend kaum Fragen stellen – der Test fiel am Ende besser aus als der erste, aber es hätte besser sein können.
Ein weiterer Problemfaktor stellt die Sprache dar. Viele haben einige Probleme mit Englisch. Dieser Problematik war ich mir bereits vor Beginn bewusst. Denjenigen, bei denen ich Zweifel hatte bezüglich ihrer Sprachkenntnisse, wollte ich aber eine Chance geben regelmäßig Englisch zu hören und zu sprechen, so dass sie somit die Sprachkenntnisse verbessern - was für das Leben in Kakuma immens wichtig ist. Bei einigen haben sich die Sprachkenntnisse auch sehr verbessert. Nichtsdestotrotz für das Unterrichten von Business Management sind die fehlenden Kenntnisse ein Problem.

Und wie blicke ich nun auf meinen Kurs? Aufgrund der Lebensumstände vieler Flüchtlinge, darf ich andere Punkte nicht aus den Augen verlieren. 
  • Drei Flüchtlinge legen von ihrer Unterkunft bis zum „Vorlesungssaal“ 4 – 5 km zu Fuss zurück, um an der Veranstaltung teilzunehmen, hin- und zurück also 8 – 10 Kilometer (!) - und zwar bei glühender Hitze (entweder der Hinweg oder Rückweg ist bei ca. 38 Grad im Schatten zu bewältigen!). Andere legen immerhin einen Hin- und Rückweg von bis zu 6 Kilometern zu Fuss zurück. Wie viele Kilometer würde ich bei diesen Bedingungen zurücklegen, um am Kurs teilzunehmen?
  • In den kleinen Hütten haben die meisten keinen richtigen Platz bzw. Tisch zu lernen. Dies macht das Studieren natürlich schwieriger. Ich weiß, wie schwer ich mir tat zu lernen, ohne einen abgeschiedenen Platz.
  • Die Schulbildung ist nicht prickelnd. Im Unterricht fragte ich, ob jemand schon einmal etwas von einer Ableitung in Mathematik gehört hat. Alle schauten mich fragend an. Daraufhin gab ich ein einfaches Beispiel und nur meine beste Studentin hatte schon einmal davon gehört, konnte aber nichts Konkretes damit anfangen. Diese Kenntnisse sind letztlich nicht für meinen Kurs notwendig, aber es zeigt mir, dass logisches Denken in der Schule nicht eingeübt wird.
  • Einige haben Geschwister oder Eltern, um die sie sich kümmern müssen. Ebenso versuchen viele ein wenig Geld zu verdienen. Daher haben sie insgesamt wenig Zeit zu studieren.
  • Die teilnehmenden Frauen sind auch noch stark mit Hausarbeit beschäftigt. (Männer sind davon per se befreit, sobald eine Frau im Haushalt lebt – sei es die Schwester, die Cousine, die Tochter, die Ehefrau...)
Die Augen vollständig geöffnet wurden mir, als eine meiner Studentinnen mir ihre Lebensgeschichte erzählte. Wenn ich mir ihre Geschichte vor Augen halte, dann kann ich meinen Studenten nicht böse sein. (Ihre Lebensgeschichte poste ich demnächst unter dem Titel: Ayana – Eine Frau gibt nicht auf!)

Zweifellos kann ich feststellen, dass sich meine Studenten stark entwickelt haben. Zusammenhänge werden schneller erkannt und Ängste vor Unbekanntem sind geringer. Übungen für zu Hause gebe ich kaum noch – der Stoff sollte zu Hause nochmals angeschaut werden. Für Übungen kann auch Teile des Unterrichts verwenden – ich kann dann zwar nicht so viel Stoff vermitteln, aber schlimm finde ich dies mittlerweile nicht mehr. Und beim Unterrichten muss ich einen Mittelweg finden, so dass diejenigen, die zu Hause lernen nicht gelangweilt sind und die anderen doch irgendwie folgen können. Es ist ein Spagat, um allen die Chance zu geben etwas aus dem Kurs mitzunehmen; dies ist mein großes Anliegen in der Arbeit mit meinen Flüchtlingen. Die Unterrichtsstunden sind für mich jedenfalls zwei Höhepunkte in der Woche. Unterrichten bereitet mir Freude. Hätte ich mir dies im Vorfeld jemals träumen lassen?